Urteil vom 24.03.2025 -
BVerwG 1 C 6.24ECLI:DE:BVerwG:2025:240325U1C6.24.0
Folgen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat für das deutsche Asylverfahren beim Familienflüchtlingsschutz
Leitsätze:
1. Ist einem Drittstaatsangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden, kann er aber dorthin wegen der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC nicht zurückkehren, haben im Rahmen eines in Deutschland durchgeführten Asylverfahrens auch die Verwaltungsgerichte die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen (wie BVerwG, Urteil vom 24. März 2025 - 1 C 7.24 -).
2. § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus an den Stammberechtigten durch die Bundesrepublik Deutschland voraus.
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Rechtsquellen
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 1 RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 1 RL 2013/32/EU Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a AsylG § 26 -
Instanzenzug
VG Aachen - 19.08.2021 - AZ: 1 K 1443/20.A
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Zitiervorschlag
BVerwG, Urteil vom 24.03.2025 - 1 C 6.24 - [ECLI:DE:BVerwG:2025:240325U1C6.24.0]
Urteil
BVerwG 1 C 6.24
- VG Aachen - 19.08.2021 - AZ: 1 K 1443/20.A
In der Verwaltungsstreitsache hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 24. März 2025
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Keller,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Fleuß und Böhmann und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. Wittkopp und Fenzl
für Recht erkannt:
- Das Urteil des Verwaltungsgerichts Aachen vom 19. August 2021 wird aufgehoben.
- Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht Aachen zurückverwiesen.
- Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
Gründe
I
1 Der Kläger begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2 Der 2017 in Griechenland geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger. Er ist der Sohn der Kläger des Parallelverfahrens 1 C 5.24 (1 C 30.21 ), die ebenfalls syrische Staatsangehörige sind.
3 Nach einem Voraufenthalt in Griechenland, wo dem Kläger und seinen Eltern im Dezember 2017 jeweils die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde, reiste die Familie im Dezember 2018 in das Bundesgebiet ein. Der Kläger und seine Eltern stellten beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) Asylanträge. Mit Bescheid vom 14. Februar 2019 lehnte das Bundesamt die Asylanträge wegen des bereits in Griechenland gewährten internationalen Schutzes als unzulässig ab. Die hiergegen gerichtete Klage war erfolgreich. Weder der Kläger noch dessen Eltern könnten nach Griechenland zurückkehren, weil ihnen dort die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde. Das Bundesamt gewährte dem Kläger und seinen Eltern mit Bescheid vom 26. Mai 2020 subsidiären Schutz und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab.
4 Die auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage der Eltern des Klägers wies das Verwaltungsgericht mit der Begründung ab, der geltend gemachte Anspruch folge nicht bereits daraus, dass ihnen in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei. Auch in der Sache sei ihr Asylantrag unbegründet, weil ihnen in Syrien keine Verfolgung drohe.
5 Die auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage des Klägers wies das Verwaltungsgericht mit der Begründung ab, der geltend gemachte Anspruch ergebe sich nicht daraus, dass den Eltern des Klägers, denen in Syrien keine Verfolgung drohe, in Griechenland die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden sei.
6 Hiergegen hat der Kläger die vom Verwaltungsgericht zugelassene Sprungrevision eingelegt. Mit Beschluss vom 5. Dezember 2022 hat der Senat das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das mit Beschluss des Senats vom 7. September 2022 - 1 C 26.21 - vorgelegte Vorabentscheidungsersuchen ausgesetzt.
7 Mit Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 [ECLI:EU:C:2024:524], QY/Bundesrepublik Deutschland - hat der EuGH für Recht erkannt, dass Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013, Art. 4 Abs. 1 und Art. 13 der Richtlinie 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3 und Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a der Richtlinie 2013/32/EU dahin auszulegen sind, dass die zuständige Behörde eines Mitgliedstaates, wenn sie von der durch die letztere Bestimmung eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen kann, weil der Antragsteller in einem anderen Mitgliedstaat, der ihm bereits einen solchen Schutz zuerkannt hat, der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC ausgesetzt wäre, im Rahmen eines neuen Verfahrens zur Gewährung internationalen Schutzes, das gemäß den Richtlinien 2011/95/EU und 2013/32/EU geführt wird, eine neue individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung dieses Antrags vornehmen muss. Dabei muss sie jedoch die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates, diesem Antragsteller internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang berücksichtigen.
8 Der Kläger trägt zur Begründung seines Begehrens nunmehr vor, dass nach dem bezeichneten Urteil ein Mitgliedstaat die Entscheidung darüber, ob er sich an die Zuerkennungsentscheidung eines anderen Mitgliedstaates gebunden sehe, erst dann treffen könne, wenn ihm der wesentliche Inhalt der Asylakte des anderen Mitgliedstaates bekannt sei. Zudem müsse er auch deshalb als Flüchtling anerkannt werden, weil gemäß Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention i. V. m. § 11 ihres Anhangs die Verantwortung für die Ausstellung eines Reiseausweises auf die Beklagte übergegangen sei. Überdies habe er einen Anspruch auf Familienflüchtlingsschutz nach § 26 AsylG.
9 Die Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil, das jedenfalls im Ergebnis richtig sei.
II
10 Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts beruht auf einer Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO), da es die auf die Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage abgewiesen hat, ohne die bereits in Griechenland erlassene Zuerkennungsentscheidung und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Zwar hatte das Verwaltungsgericht eine Sachentscheidung über den Asylantrag des Klägers zu treffen (1.); auch folgt der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch nicht aus einer inhaltlichen Bindungswirkung der griechischen Zuerkennungsentscheidung (2.). Dem Kläger steht im Hinblick auf die zugunsten seiner Eltern in Griechenland ergangene Zuerkennungsentscheidung kein abgeleiteter Schutzstatus nach § 26 Abs. 5 i. V. m. Abs. 2 AsylG zu (3.). Doch hat das Verwaltungsgericht unter Verstoß gegen Unionsrecht die Entscheidung Griechenlands, dem Kläger internationalen Schutz zu gewähren, und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, nicht in vollem Umfang berücksichtigt (4.). Mangels hinreichender tatsächlicher Feststellungen kann der Senat nicht selbst entscheiden; dies nötigt zur Zurückverweisung (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO) (5.).
11 1. Das Verwaltungsgericht ist zu einer Sachentscheidung über den Asylantrag des Klägers verpflichtet gewesen, da durch ein Verwaltungsgericht rechtskräftig festgestellt worden ist, dass der Kläger nicht nach Griechenland zurückkehren kann, weil ihm dort die ernsthafte Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC drohen würde. Zwar bestimmt § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, dass ein Asylantrag unzulässig ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG gewährt hat. Diese Vorschrift ist in den Fällen anderweitiger Flüchtlingsanerkennung innerhalb der Europäischen Union unangewendet zu lassen, in denen der betreffende Ausländer wegen einer nach Art. 4 GRC drohenden ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht durch Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung nach Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU auf den (formal gewährten) Schutz des anderen Mitgliedstaates verwiesen werden darf (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022 - 1 C 26.21 - juris Rn. 10 f. m. w. N.).
12 2. Der von dem Kläger geltend gemachte Anspruch folgt nicht aus der bereits in Griechenland erfolgten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine unmittelbare Bindungswirkung der von einem anderen Staat getroffenen Statusentscheidung ergibt sich weder aus nationalem Recht (a) noch aus dem Unionsrecht (b).
13 a) aa) Die von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland ausgehenden Rechtswirkungen sind nationalrechtlich in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG abschließend geregelt. Danach schließt die für einen bestimmten Staat ausgesprochene ausländische Anerkennung als Flüchtling die Abschiebung in diesen Staat auch für Deutschland aus. Durch diese nationale Regelung hat der deutsche Gesetzgeber eine auf den Abschiebungsschutz begrenzte Bindungswirkung der ausländischen Flüchtlingsanerkennung angeordnet, aus der aber kein Anspruch auf neuerliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft folgt. Eine weitergehende Bindung des Bundesamtes lässt sich nationalrechtlich auch nicht aus § 3 Abs. 3 AsylG oder aus verfassungsrechtlichen Vorgaben herleiten (vgl. BVerwG, Beschluss vom 7. September 2022 - 1 C 26.21 - juris Rn. 12 ff.).
14 bb) Keiner näheren Erörterung bedarf die Frage, ob etwas anderes gilt, wenn die Verantwortung für einen Flüchtling nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention i. V. m. § 11 ihres Anhangs auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist. Den nach § 137 Abs. 3 und § 134 Abs. 4 VwGO bindenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts lassen sich die tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Verantwortungsübergangs im Falle des Klägers nicht entnehmen.
15 b) Im Ergebnis zu Recht (§ 144 Abs. 4 VwGO) geht das Verwaltungsgericht davon aus, dass der Kläger auch aus dem Unionsrecht keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft allein aus dem Umstand ableiten kann, dass ihm ein solcher Status bereits in einem anderen Mitgliedstaat gewährt wurde. Das Unionsrecht verpflichtet die Mitgliedstaaten im Bereich des internationalen Schutzes nicht, die von einem anderen Mitgliedstaat erlassenen Entscheidungen über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft automatisch anzuerkennen (EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 - Rn. 56). Anderes folgt nicht aus einem ebenfalls am 18. Juni 2024 ergangenen Urteil des EUGH (C-352/22 [ECLI:EU:C:2024:521], Generalstaatsanwaltschaft Hamm), das allein das Auslieferungsrecht zum Gegenstand hat.
16 3. Ebenfalls im Ergebnis zu Recht hat das Verwaltungsgericht angenommen, dass dem Kläger kein Anspruch auf Zuerkennung einer von seinen Eltern abgeleiteten Flüchtlingseigenschaft aus § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 2 AsylG zusteht. § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus an den Stammberechtigten durch die Bundesrepublik Deutschland voraus.
17 a) Zwar ließe sich mit dem Wortlaut des § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG eine Auslegung vereinbaren, nach der der Begriff der "international Schutzberechtigten" auch einen Ausländer erfasst, dem ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat.
18 b) Einem derartigen Verständnis steht aber bereits die Binnensystematik der Norm entgegen. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG regelt die Anerkennung der Familienangehörigen von Asylberechtigten. Asylberechtigte in diesem Sinne sind nur solche Ausländer, die von der Beklagten als solche anerkannt worden sind (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Dies spricht dafür, dass auch der Begriff der international Schutzberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 5 Satz 1 AsylG nur diejenigen Ausländer erfasst, denen die Beklagte die Flüchtlingseigenschaft oder den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat (so OVG Münster, Urteil vom 10. September 2024 - 14 A 3506/19.A - juris Rn. 85).
19 c) Das folgt auch aus der Entstehungsgeschichte des § 26 AsylG. Die Neufassung der Norm durch Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 (BGBl. I S. 3474) diente in erster Linie der Umsetzung des Art. 23 Abs. 2 dieser Richtlinie in nationales Recht. § 26 Abs. 5 Satz 1 und 2 i. V. m. Abs. 1 bis 3 AsylG zielte darauf, den Familienangehörigen eines Schutzberechtigten zum Zwecke der Aufrechterhaltung der Familieneinheit und der Wahrung des Minderjährigenschutzes die gleichen Rechte wie dem Stammberechtigten zu vermitteln. Zur Erreichung dieses Zieles beschritt der Gesetzgeber indessen nicht den Weg einer rein aufenthalts- und sozialrechtlichen Umsetzung; stattdessen entschied er sich nicht zuletzt im Interesse einer Verfahrensvereinfachung für eine unionsrechtlich überschießende asylrechtliche Umsetzung der Vorgaben des Art. 23 Abs. 2 RL 2011/95/EU und privilegierte sie, indem er sie dem Stammberechtigten ohne individuelle Prüfung einer Verfolgungssituation im Status folgen lässt (BVerwG, Urteil vom 17. November 2020 - 1 C 8.19 - BVerwGE 170, 326 Rn. 26). Die dadurch bewirkte Erleichterung durch Erwerb des abgeleiteten Status knüpft indessen allein an die von der Beklagten getroffene Statusentscheidung zugunsten des Stammberechtigten an.
20 d) Aus Sinn und Zweck des § 26 AsylG ergibt sich ebenfalls eine Beschränkung des Kreises der Stammberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 5 AsylG auf Personen, denen die Beklagte den Schutzstatus zuerkannt hat. Das Institut des Familienasyls beruht auf dem Gedanken des Familienschutzes und der Erfahrung, dass vielfach diejenigen, die von einem Flüchtling abhängig sind, im Verfolgungsland ebenfalls Verfolgungen oder sonstigen schweren Beeinträchtigungen ausgesetzt sind. Die Regelung zielte auf die "Entlastung des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und der Verwaltungsgerichtsbarkeit, da sie die Möglichkeit eröffnet[e], von einer u. U. schwierigen Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen eines Asylberechtigten abzusehen". Sie wurde zudem als "sozial gerechtfertigt", weil der "Integration der nahen Familienangehörigen der in der Bundesrepublik Deutschland als Asylberechtigte aufgenommenen politisch Verfolgten" förderlich erachtet (BT-Drs. 11/6960 S. 29 f.). An dieser auf der gesetzlichen Vermutung einer Verfolgung basierenden Konzeption des Familienasyls hat der Gesetzgeber bei der Schaffung des § 26 Asyl(Vf)G und bei den der Umsetzung von Art. 23 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Buchst. j RL 2011/95/EU dienenden Erweiterungen auf international Schutzberechtigte und Einbeziehung weiterer Familienangehöriger im Grundsatz festgehalten (BVerwG, Urteil vom 15. November 2023 - 1 C 7.22 - BVerwGE 181, 49 Rn. 15 m. w. N.). Dem damit verfolgten Ziel, das Bundesamt und die Verwaltungsgerichte von der Prüfung eigener Verfolgungsgründe der Familienangehörigen zu entlasten, liefe es zuwider, wenn das Bundesamt und die Gerichte die Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten hinsichtlich des Stammberechtigten ermitteln, diese auf ihre Bestandskraft überprüfen sowie das Vorliegen etwaiger Widerrufs- oder Rücknahmegründe (vgl. § 26 Abs. 5 Satz 1 i. V. m. Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und 4, Abs. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und 4 AsylG) feststellen müssten (vgl. VGH München, Beschluss vom 7. Oktober 2021 - 23 ZB 19.33422 - juris Rn. 30 m. w. N.).
21 e) Dieses Verständnis steht auch im Übrigen mit dem Unionsrecht im Einklang. Den Mitgliedstaaten steht es frei, die Anerkennung sämtlicher mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechte in ihrem Hoheitsgebiet davon abhängig zu machen, dass ihre zuständigen Behörden eine neue Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen (EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 - Rn. 69). Hiervon hat Deutschland Gebrauch gemacht. Die neue Entscheidung bezieht sich dann aber auf sämtliche mit der Flüchtlingseigenschaft verbundenen Rechtspositionen, zu denen auch die Eigenschaft eines Stammberechtigten im Sinne des § 26 Abs. 5 AsylG gehört.
22 f) Ob einer danach grundsätzlich erforderlichen Statusentscheidung der Bundesrepublik Deutschland der Fall gleichzustellen ist, in dem die Verantwortung für einen im Ausland anerkannten Flüchtling nach Art. 28 der Genfer Flüchtlingskonvention i. V. m. § 11 ihres Anhangs oder nach dem Europäischen Übereinkommen über den Übergang der Verantwortung für Flüchtlinge vom 16. Oktober 1980 auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen ist (verneinend OVG Münster, Urteil vom 10. September 2024 - 14 A 3506/19.A - juris Rn. 88 ff.), bedarf hier keiner Entscheidung. Denn auch hinsichtlich der Eltern des Klägers sind die tatsächlichen Voraussetzungen eines solchen Verantwortungsübergangs vom Verwaltungsgericht nicht festgestellt (vgl. auch BVerwG, Urteil vom 24. März 2025 - 1 C 5.24 -).
23 4. Das Verwaltungsgericht hat jedoch dadurch gegen Bundesrecht verstoßen, dass es die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, nicht in vollem Umfang berücksichtigt hat. Damit beruht die Annahme, der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, auf einer zu schmalen Tatsachengrundlage und genügt den revisionsrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf die richterliche Überzeugungsbildung nicht (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. April 2024 - 1 C 8.23 - juris Rn. 16). Dadurch verfehlt das Verwaltungsgericht nicht nur das von § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO vorgegebene Maß an Überzeugungsgewissheit, sondern verstößt zugleich gegen materielles revisibles Recht. Denn die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt tatbestandlich eine begründete Furcht vor Verfolgung voraus. Das Tatsachengericht muss sich - auch in Ansehung der "asyltypischen" Tatsachenermittlungs- und -bewertungsprobleme - die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen. Kommt es dem bei der Verfolgungsprognose hinsichtlich der notwendigen Berücksichtigung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch einen anderen Mitgliedstaat nicht nach, so steht seine Entscheidung weder mit der Zielsetzung des Flüchtlingsrechts noch mit den maßgeblichen unionsrechtlichen Vorgaben im Einklang (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. Januar 2023 - 1 C 22.21 - BVerwGE 177, 289 Rn. 42).
24 a) In den Fällen, in denen der Antrag eines Schutzsuchenden nicht bereits als unzulässig abgelehnt werden kann, besteht zunächst die Pflicht der zuständigen Behörde eines Mitgliedstaates, eine individuelle, vollständige und aktualisierte Prüfung der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorzunehmen und hierbei die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Behörde des Mitgliedstaates, die über den neuen Antrag zu entscheiden hat, muss daher unverzüglich einen Informationsaustausch mit der zuständigen Behörde des Mitgliedstaates einleiten, der dem Antragsteller zuvor die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt habe. Hierbei muss sie die andere Behörde über den neuen Antrag informieren, ihr ihre Stellungnahme zu dem neuen Antrag übermitteln und sie bitten, ihr innerhalb einer angemessenen Frist die ihr vorliegenden Informationen, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, zu übermitteln (EuGH, Urteil vom 18. Juni 2024 - C-753/22 - Rn. 78).
25 b) Die Verpflichtung, die Entscheidung des anderen Mitgliedstaates sowie die ihr zugrunde liegenden Anhaltspunkte bei der Entscheidung über einen Asylantrag zu berücksichtigen, gilt indes nicht nur für die zur Entscheidung über den Asylantrag berufenen Behörden, sondern erstreckt sich auf ein sich anschließendes verwaltungsgerichtliches Verfahren. Dies folgt aus der Verpflichtung der Gerichte zur Sachaufklärung nach § 86 Abs. 1 VwGO und zur Herstellung der Spruchreife nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Zwar kann die besondere Ausgestaltung des Asylverfahrens mit der hervorgehobenen Stellung des behördlichen Verfahrens und den daran anknüpfenden Verfahrensgarantien in besonderen Fallkonstellationen eine Ausnahme von der genannten Verpflichtung rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 15. April 2019 - 1 C 46.18 - Buchholz 402.251 § 33 AsylG Nr. 1 Rn. 20). Eine solche Ausnahmesituation, die etwa bei einem Unterbleiben der Prüfung der materiell-rechtlichen Anerkennungsvoraussetzungen durch das Bundesamt anzunehmen ist, liegt hier jedoch nicht vor. Die unionsrechtlich gebotene Ergänzung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen kann im gerichtlichen Verfahren erfolgen.
26 c) Die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands hat bei der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht die unionsrechtlich gebotene inhaltliche Berücksichtigung gefunden. Ein auf die in Griechenland getroffene Entscheidung bezogener Informationsaustausch zwischen dem Bundesamt und den für Asylverfahren zuständigen griechischen Behörden im vorgenannten Sinne ist weder im Asylverfahren noch im gerichtlichen Verfahren erfolgt. Auch auf anderem Wege - etwa durch eine Vorlage entsprechender Unterlagen durch den Kläger oder seine Eltern - ist die Zuerkennungsentscheidung Griechenlands nebst den Anhaltspunkten, auf denen sie beruht, nicht zum Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens geworden.
27 5. Zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen ist das angefochtene Urteil gemäß § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht wird die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft durch Griechenland und die Anhaltspunkte, auf denen diese Entscheidung beruht, zu würdigen und zu berücksichtigen haben. Sollte sich im gerichtlichen Verfahren die Einholung weiterer Informationen, etwa bei den Behörden Griechenlands, als erforderlich erweisen, haben die Beteiligten - namentlich das Bundesamt - daran mitzuwirken (§ 86 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO).